Chorleben

von Armin Polster, Illustrationen Claudia Kreile

Der Probenbesuch ist freiwillig, kostenlos und unbezahlt und dennoch verpflichtend. Man kommt aus der Arbeit, aus dem Stau, von weit her oder aus der Gemeinde, hat dem Kollegen bzw. Babysitter seine Aufgaben erklärt und freut sich aufs Singen. Wer zu früh kommt, hilft dem Chorleiter beim Aufstellen der Stühle, wer pünktlich ist, nimmt am Einsingen von Anfang an teil. Dabei stößt man zunächst mittels geeigneter Konsonanten Zischlaute aus, bis Ruhe eingekehrt ist. Es folgt ein lustiges Hüpfen, Strecken und Sichbeklopfen, bis wieder Unruhe herrscht. Nun darf man singen: Übungen zur Lockerung von Zunge und Zwerchfell, zur Festigung der Intonation, zur Förderung der Tiefen und der Höhen. Die dazu verwendeten Texte sind literarisch irrelevant. Allmählich sind fast alle Chormitglieder eingetroffen, die Nachzügler warten höflich im Türbereich auf das Ende des Einsingens. Dann suchen sie ihre Plätze auf.

Bässe haben bei den Proben keinen eigenen Sektor im Chorhalbkreis. Einigen wenigen gelingt es, sich zwischen Alt und Tenor niederzulassen, wobei sie sich geniert fragen, ob sie überhaupt dorthin gehören. Die anderen gruppieren sich, je nachdem wie spät sie zur Probe kommen, in einem weiten Bogen hinter den Altistinnen (das Freihalten von Plätzen ist unter Bässen nicht üblich). Natürlich versteht man dort hinten nicht mehr, was der Chorleiter sagt, aber man sieht alles und hat ja die Noten. Bässe sind eitel: Hohe Bässe finden Genugtuung darin, gelegentlich beim Tenor mitzusingen, tiefe Bässe singen gern im Falsett die Altstimme, manche heben besonders bassige Töne mit kernigem Nachdruck hervor, wieder andere entfalten ihre Stimmkunst am schönsten in unmittelbarer Nachbarschaft einer singenden Frau und ruhen nicht, bis sie einen solchen Platz gefunden haben. Die längsten Bässe sind nicht die tiefsten.

Tenöre sind rar. Im Zuge der Akzeleration sind im Verlauf der Jahrhunderte nämlich nicht nur die Menschen im Durchschnitt größer geworden, sondern mit ihnen auch ihre Kehlköpfe, so dass das Singen hoher Töne zunehmend anstrengender geworden ist. Gleichzeitig hat man den Kammerton in der abendländischen Musik (ausgenommen bei den Wiener Philharmonikern) deutlich erhöht, so dass heutzutage höher gesungen wird als zu Bachs Zeiten, das klingt natürlich knackiger. Und jetzt suchen Sie mal knackige Tenöre! Viele entziehen sich der Aufgabe und werden Chorleiter. Tenöre kommen zu den Proben zu spät. Jeder genießt seinen eigenen Auftritt und wird mit den Worten begrüßt: „Ah, schön, dass du da bist“, was Sänger aus anderen Stimmgattungen nicht erleben dürfen. Tenöre finden ohne Schwierigkeit freie Plätze in der Mitte des Chorhalbkreises, im Einflussbereich des Chorleiters.

Vom Alt soll ein mütterlich-warmer, gelegentlich auch sonorer, tragender Stimmklang ausgehen. Dieser zwiespältige Auftrag wird meist so ausgeführt, dass man entweder wacker, richtig und laut eine Note an die andere reiht oder vor lauter Emotion zu langsam und zu tief singt. Beides provoziert den Chorleiter zu Schmähungen. Allerdings ist oft aus kompositorischen Gründen die Altstimme schwierig zu singen (Altistinnen hören das Wort „Füllstimme” nicht gern), und mehr als andere Stimmgruppen beschäftigen den Alt integrative Sorgen: sich in den Alt einkuschelnde Soprane, die sich vor den dort verlangten Spitzentönen fürchten bzw. sie nicht mehr erreichen können, ferner einige liebenswerte Menschen, die in erster Linie zum Ratschen in die Proben kommen. Kurz: Alt sein ist mühsam. Zu spät zur Probe kommende Altistinnen setzen sich auf die Plätze, die ihnen die lieben Kolleginnen freigehalten haben.

Über die Sopranistinnen sollte man besser nicht herziehen. Zwar haben sie, weil sie die aus unserem Liedgut bekannten Melodiestimmen zu singen haben, meist keine technischen Probleme, sofern sie nur die Höhe meistern. Sie sind sich der Macht ihrer Stimme bewusst, benötigen aber in relativ kurzem Zeittakt Anerkennungen vom Chorleiter. Kritische Bemerkungen über ihre stimmliche Leistung führen umgehend zum Absinken der Tonhöhe weit unter die Werte, die ihnen bei zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen zur Verfügung stehen. Ihr Gewisper mit der Nachbarin stört die Probenarbeit natürlich weit weniger als das Gemurmel in anderen Stimmgruppen, obwohl es die Beurteilung Dritter zum Thema hat. Zu spät zur Probe kommende Sopranistinnen holen sich ihre Stühle selber herbei und setzen sich hinter den Bass 1. Sopranistinnen sind ebenso unentbehrlich wie süß. Beides wissen sie.

Hat jeder seinen Platz gefunden, so gibt der Chorleiter – zunächst weitgehend unbeachtet – Autor, Werk, Nummer und Taktzahl bekannt, die jetzt geprobt werden sollen. Er verlangt sprachliche Präsenz, die korrekte Tonhöhe, pünktlichen Einsatz (Konsonanten vor dem Ton), das „t“ auf die 2, eine geschmeidige sangliche Linie bzw. lockere Koloraturen, das Ganze im Stehen, zupackend, dranbleibend, mit fröhlich-zuversichtlichem Gesichtsausdruck – alles gleichzeitig! Eine Herausforderung insbesondere für Sänger, denen der Alltag die Mundwinkel heruntergezogen hat oder denen noch vom Einsingen das Kreuz weh tut. Neu aufgenommene Chormitglieder werden, nachdem sie vorgesungen haben, dem applaudierenden Chor vorgestellt. Applaudiert wird auch bei Geburtstagen nach dem Absingen des Glückwunschkanons, bei der Eröffnung des Büffets an Chorfesten sowie bei Ansprachen des Chorleiters im Jagdschlössl.

Bei den Aufführungen stehen, wie auch im Leben, die Männer hinter den Frauen: Die Bässe von ganz rechts nach weit links bis über die Mitte hin zum Reservat der Tenöre (einchörige Aufstellung). Tenöre rücken nicht nach, wenn es auf dem Podium bei den Bässen zu eng wird. Man kann das verstehen, weil sie nicht an die kalte Kirchenwand gedrückt werden möchten, Bässe vertragen das besser. Deshalb nimmt man manchmal die Tenöre – von zwei Bassgruppen flankiert – in die warme Mitte, damit Ruhe ist (doppelchörige Aufstellung). Die Aufstellung der etwa gleich großen Stimmgruppen der Frauen (Sopran 1 und 2 sowie Alt 1 und 2) ist unproblematisch, außer dass jede Sängerin neben ihrer Freundin stehen will. Zuhörer dürfen den Sängern zuwinken. Diese geben durch Neigen des Kopfes zu erkennen, für wen sie singen werden und sind auf diese Weise nicht ausschließlich auf den Dirigenten angewiesen.

Nach dem Konzert, nach dem erhofften lang anhaltenden Applaus des dankbaren Publikums, soll nach festgelegten Regeln „ausgestiegen” werden: Zuerst die Solisten und der Dirigent, das Orchester bleibt sitzen, der Chor steht: Man weiß ja nicht, ob die noch mal rauskommen. Auf ein Zeichen der Konzertmeisterin gehen dann die Instrumentalisten, manche applaudieren dem Chor, das tut gut. Danach tritt der Chor ab, und zwar seitlich steil hinunter durch die Sakristei, zuerst die Frauen, Reihe für Reihe. Im Publikum würdigt das kaum einer, ähnlich wie beim Orgelstück am Ende der Gottesdienste. Deshalb kommt es schließlich bei den Männern zum wilden Aussteigen: geradeaus, die Podeststufen hinunter, hin zu den Fans und deren taufrischen Konzertkritiken. Ja, und dann bauen die Chorsänger das Podest ab, schleppen die Stühle zurück ins Gemeindehaus, machen sich davon und parken nahe der Gaststätte.